Vor dem 16. März war auf der Straße wenig zu spüren von der Corona Pandemie. Einrichtungen boten wie gewohnt ihre Unterstützung und man blickte mit etwas Humor auf leergekaufte Supermarktregale. Doch das sollte sich leider schnell ändern.
Für Susanne Groth vom Verein Leben im Abseits begann alles am Freitag, den 13. mit der Ankündigung des ersten Lockdowns. „Es herrschte Verwirrung in unserem Arbeitskreis Armut und Obdachlosigkeit. Was bedeutet das für uns, wen betrifft diese Allgemeinverfügung und wer muss schließen? Abends kam dann die erste E-Mail einer Tagesstätte, in der es hieß: „Liebe Kollegen, aus aktuellem Anlass schließen wir ab dem 16.3.“
Wir waren über diese Ankündigung etwas verwundert, sie blieb aber auch die Einzige an diesem Tag. Und dann kam Montag, der 16. März, ein Tag an den wir uns alle gut erinnern können. Mein Telefon klingelte ab 6 Uhr morgens unaufhörlich. Es herrschte absolutes Chaos. Keiner wusste, wer geöffnet hat und wer nicht. Immer mehr Schließungen wurden bekannt gegeben. Die Menschen auf der Straße, die auf diese Angebote angewiesen sind, standen vor verschlossenen Türen.
Sie wussten nicht, was es mit Corona auf sich hatte und die Angst und Ungewissheit wurde immer größer. Hygieneregeln und Abstandsgebote waren noch unbekannt, mussten dementsprechend erst erklärt werden. Verständigungsschwierigkeiten aufgrund fehlender Sprachkenntnisse wurden zum Problem. Bürgernahe Beamte und Streetworker leisteten mit aller Kraft Aufklärungsarbeit und schnell wurden mehrsprachige Flyer erstellt.
Tagesstätten sind im Alltag auf der Straße oft der einzige Lichtblick. Sie bieten Essen, Gemeinschaft und einen warmen Rückzugsort mit sozialer Beratung. Dies fiel nun mit einem Schlag weg.
Einzig das Cafée mit Herz blieb geöffnet. Mit einer Notbesetzung wurde Mittagessen gekocht und durch ein Fenster an die hungrigen Menschen verteilt. Auch hier war aber der Aufenthalt in der Tagesstätte aber nicht mehr möglich.
Für viele Einrichtungen war ein großes Problem, dass viele ehrenamtliche Mitarbeiter aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe gehören. Ohne diese Ehrenamtlichen war die gewöhnliche Versorgung kaum zu leisten. Essenzielles, wie Masken und Desinfektionsmittel, um Mitarbeiter schützen zu können, fehlte zumeist.
Von gleich auf jetzt wurde der Kiez zur Geisterstadt. Alles war verriegelt, keine Passanten, keine Autos und keine Händler waren mehr zu sehen. Für obdachlose Menschen fielen alle „Einnahmequellen“ komplett weg.
Weil auch alle Kneipen und Restaurants geschlossen wurden, gab es nicht einmal mehr eine Möglichkeit, sich die Hände zu waschen, geschweige denn auf Toilette zu gehen. Es gab absolut keine sanitären Einrichtungen mehr und das gerade in dem Moment, wo sie am nötigsten waren.
Die Situation war schrecklich. Eine verzweifelte Frau weinte auf Knien, sie könne nirgends auf Toilette gehen, sich nicht einmal die Hände waschen, um sich vor Corona zu schützen.
Das Schlimmste war die Hilflosigkeit. Wir hatten keine Lösung. Die Beamten der Davidwache versuchten, schnellstmöglich einen mobilen Toilettenwagen zu organisieren, dies wurde jedoch von der Behörde abgelehnt und die Beamten wurden freundlich darauf hingewiesen, sich um ihren eigenen Aufgabenbereich zu kümmern. Es kam zu immer mehr Anwohnerbeschwerden aufgrund von vollgekoteten Hauseingängen und Gärten. Aber wo sollten die Menschen auch hin?
Diese untragbare Situation veranlasste Jan Marquardt, den damaligen Leiter des Cafées mit Herz, als Notlösung fünf Dixis aufstellen zu lassen. Die Kosten hierfür wurden im Anschluss zumindest von der Sozialbehörde übernommen.
Für die Menschen auf der Reeperbahn war das jedoch keine wirkliche Lösung. Eine Frau sagte mir: „Bis ich dort bin, mach ich mir doch schon drei Mal in die Hose.“
Nach ganzen 14 Tagen kam es endlich zur Öffnung der Duschen des Bäderlands St. Pauli in Zusammenarbeit mit GoBanyo.
Der unglaubliche Kommentar der Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard dazu: „Wir konnten eine schnelle, unkomplizierte Hilfe organisieren.“
Aber in dieser Zeit gab es auch schnell große Solidarität. Die Gewerbetreibenden des Kiezes, die aufgrund der Schließungen selbst um ihre Existenz fürchten mussten, spendeten Lebensmittel für die Menschen auf der Straße.
Der Elbschlosskeller wurde zum Ausgabeort für Essen und Kleidung. Es war ein Leuchten auf dem Kiez in dieser Krise und neben dem Cafée mit Herz anfangs hier die einzige Versorgung. Sehr viele Menschen brachten Essen, Kleidung oder spendeten Geld. So konnten sich Obdachlose zumindest durch Supermärkte notdürftig versorgen. Auch viele Unternehmen, wie das Hamburger Abendblatt, spendeten Lebensmittelgutscheine oder Geld.
Es wurden neue Initiativen ins Leben gerufen, von Menschen, die selbst hart von der Pandemie getroffen wurden. In einigen geschlossenen Restaurants, wie zum Beispiel das Hidden Kitchen, kochte man statt für zahlende Gäste nun für obdachlose Menschen.
Nach und nach organisierte sich auch eine Ausgabe von Lunchpaketen durch die Tagesstätten. Die Behörde wurde nun auch aktiv und versorgte zum Beispiel die Alimaus mit einigen Lunchtüten. Deren Inhalt war leider etwas „mager“ und wurde daher mit eigenen Beständen und Spenden ausgebessert.
Diese notdürftige Versorgung hat die Menschen auf der Straße zusätzlich geschwächt, eine warme, ausgewogene Mahlzeit, die es sonst in den Tagesstätten gab, konnte sie in keinem Fall ersetzen.
Die fehlend Rückzugsmöglichkeit innerhalb der Tagesstätten, erschwerte auch den Sozialarbeitern den Kontakt zu den Menschen aufrecht zu erhalten.
Auch in unserem Arbeitskreis war diese Zeit von großer Solidarität und Zusammenarbeit geprägt. Wurde in einer Einrichtung etwas benötigt, zum Beispiel Masken und Desinfektionsmittel bei Ragazza, haben wir uns schnell organisiert und konnten uns so untereinander helfen.
Bei all den schrecklichen Ereignissen dieser Pandemie behalte ich auch etwas Positives in Erinnerung: den außergewöhnlichen Zusammenhalt und die Solidarität der Menschen.